Mit Volldampf zu den Sternen! Space 1889 ein Rollenspiel von Ulisses (Rezension)

Space 1889 | Pen&Paper Rollenspiele| ab 12 Jahren | 3 bis 8 Spieler*innen | Ulisses North America (Uhrwerk-Verlag)

 

So oder ganz anders könnte es auch in ihrem Spiel geschehen:

Wohlig sank Rittmeister Wilhelm-Erwin zu Rummelsburg in seinem Liegestuhl zurück, und schnallte sich fest. Er öffnete den obersten Kragenknopf seiner Paradeuniform und genoss wie die Sonne seinen gewachsten Schnurrbart kitzelte. Über ihm glänzte silbern die große Zeppelinhülle, unter ihm hangelten sich levrierte Pagen zwischen den in regelmäßigen Abstand angebrachten Fußhaken umher. Dazwischen spannten sich die großen Aussichtsfenster, die einen geradezu überwältigenden Ausblick in die Schwärze des umgebenden Sternenmeeres erlaubte. Die schier unfassbare Unendlichkeit endloser Nacht, lediglich durchbrochen vom Schimmerglanz unsagbar weit entfernter Gestirne, lehrte selbst den Gottlosesten die Demut vor der Schöpfung. Wie auch umso größere Bewunderung für die Glanzleistung deutscher Ingenieure, die diesem lebensfeindlichen Abgrund mittels ihrer Kunst eine Passage abtrotzten. So nahe an der Gondel waren die Motoren deutlich zu hören, deren beständiges Summen die Ätherpropeller in Gang hielt. Ohne ihre beständige Bewegung am Heck des Raumfliegers würde der Weg eine buchstäbliche Ewigkeit in Anspruch nehmen. Stirnseitig konnte man das Ziel der Reise mittlerweile gut erkennen. War der Morgenstern zu Beginn der Fahrt nicht mehr gewesen als ein Licht unter vielen, nicht zu unterscheiden von all den Sternen die ihn umgaben, zeigte er mittlerweile weitaus deutlichere Konturen. Man wollte fast meinen, schon die beständigen Nebelschwaden, die den Planten Venus umhüllten, in der Ferne entdecken zu können.
Rittmeister Wilhelm-Erwin schloss die Augen.
Erst das zischelnde Räuspern eines Pagen weckte ihn aus seinem Schlummer. Missmutig schlug der Rittmeister halb die Augen auf.
„Ja?“
Das Echsengesicht, nur einen Meter von ihm entfernt, starrte ihn direkt an. Im ersten Augenblick wollte er es schon ob dieser Anmaßung schelten, dann entsann er sich, dass oben und unten an Bord eines Ätherfliegers nicht länger fixe Konzepte darstellten, und es daher dem Dienstboten schwer fiel, zu Boden zu blicken. Nichtsdestotrotz, das schuppige Antlitz so nahe zu wissen jagte ihm einen Ausdruck des Ekels übers Gesicht.
Der Page schien dies nicht zu bemerken. Präsentierend hob der venusische Eingeborene, dem die Uniform der kaiserlich-ätherischen Hanse mehr schlecht als recht stand, das Tablett. Darauf stand ein Flakon mit Trinkstutzen, befestigt mit mehreren Widerhaken. Rittmeister Wilhelm-Erwin zu Rummelsburg löste das Gefäß mit einer ruckartigen Bewegung, die den Pagen davon stieß, ehe dieser einen der Wandhaken mit dem Greifschwanz zu fassen bekam.
„Wurde auch Zeit“, befand Rittmeister, öffnete den Stutzen und saugte einen Schluck heraus. Der Wein verdiente kaum Bewunderung, umso mehr da der Rebensaft schon seit jeher nicht zu den Gaumenschmeichlern des Offiziers gehörte. Doch noch hatte niemand einen Weg gefunden, im Raum zwischen den Welten ein vernünftiges deutsches Bier zu servieren. Nicht ohne… unbehagliche Konsequenzen.
Ein spitzer Schrei riss Rittmeister Wilhelm-Erwin vollends aus der Ruhe. Im Nu hatte er die Gurte seines Liegestuhls geöffnet, sich umgeblickt und schon die Situation erfasst. Eine Dame hatte sich an der Schleusentür verfangen. Wilhelm-Erwin kannte sie als eine weitere Passagierin, hatte jedoch während der Reise noch keine Gelegenheit gehabt, ihr höflich zu begegnen. Nun kam ihm das Schicksal zu Hilfe.
Mit einem beherzten Tritt stieß der Offizier sich von dem Liegestuhl ab, und flog nach bester Kavalleriemanier heran. Es gelang ihm sogar, die Position soweit zu verändern, dass er in angemessener Haltung vor der Dame anlandete. Diese trug einen modischen Hut mit Spitzenschleier, der mit einem Gurt an ihrem Kinn befestigt war. Ebenso verbanden Klammern die Schöße ihres dunklen Kleides mit ihren Schuhen, um unsittliches Auffliegen während der turbulenten Überfahrt zu vermeiden. Wilhelm-Erwin vermutete in ihr eine junge Witwe.
„Gestatten, Gnädige Frau?“, sagte der Rittmeister, just als der die Stiefelspitzen unter die nahen Wandhaken stellte.
Freudige Überraschung huschte über das zarte Gesicht unter dem Schleier.
„Oh, wenn sie so freundlich wären…“, hauchte sie mit anmutiger Stimme. „Es käme mir sonst nicht in den Sinn, aber bis ich einen Pagen bemühe…“
„Haben ganz Recht, gnädige Frau“, nickte Wilhelm-Erwin energisch. „Sind vielleicht nicht so einfältig wie manch andere Wilde, aber was heißt das schon? Wenn sie gestatten?“
Es brauchte nur einen schnellen Griff, schon lösten sich die verkeilten Riemen von den Nieten des Druckschotts und die Frau war wieder frei. Keuchend ergriff sie den angebotenen Ellbogen des Rittmeisters.
„Meiner Seele“, seufzte sie. „Solch ein Umstand, und das meinetwegen.“
Wilhelm-Erwin strich sich den Bart glatt.
„Madame können ganz beruhigt sein, kein Umstand in jeglicher Weise. Im Gegenteil, vielmehr eine Freude meinerseits, behilflich sein zu können.“
„Es stimmt wohl, was man über das Offizierskorps sagt“, meinte die Unbekannte. „Selbst für jene, von der berüchtigten Abteilung Z.“
Wilhelm-Erwin wollte seine Überraschung noch verbergen, doch die plötzliche Sicherheit in der Stimme der Frau, ließ ihn an seiner Vorstellung zweifeln. Wie hatte er sich verraten? War dies Teil einer Prüfung, ob er auch das Zeug für die Arbeit beim Geheimdienst besaß?
„Aber Madame“, setzte er an „Sie glauben doch nicht…?“
In liebreizender Bosheit lächelte die Dame unter dem Schleier hervor.
„Keine Bange, Herr Rittmeister“, sagte sie süßlich. „Ihre Reise ist im Begriff, viel interessanter zu werden.“
Ein leises Klicken ertönte. Wilhelm-Erwin blickte nach unten, und sah direkt in den schwarzen Lauf des eleganten Revolvers.

 

Das Spiel:
Space 1889 ist ein Rollenspiel entstanden unter der Redaktion von Stefan Küppers und vielen anderen und bei Uhrwerk-Verlag erschienen. Es ist für 4+ Spieler*innen geeignet und kann 12 Jahren gespielt werden.

Dem Space1889 Rollenspiel liegt das Ubiquitiy-Würfelsystem zugrunde. Hierbei werden Erfolg und Misserfolg der einzelnen Würfelwürfe grundsätzlich nur zwischen gerade und ungerade unterschieden. Dies ermöglicht es, das Spiel mit praktisch jeder Art von Würfel zu spielen, und ist entsprechend flexibel im Einsatz. Die Menge der erreichten Erfolge ist dabei grundsätzlich entscheidend.
Dies ermöglicht einen raschen Spieleinstieg und fördert die Erklärbarkeit, gerade gegenüber Neueinsteiger*innen in das Hobby Rollenspiel. Dass die Komplexität dem gegenüber etwas in den Hintergrund tritt, ist beabsichtigt und dem mehr erzählerischen als regelschweren Fokus des Spiels geschuldet. Denn grundsätzlich ist es die Stimmung, auf die sich Space 1889 beruft. Das Flair Jules Vernes, die Abenteuerreisen aus den frühen Jahren der Neuzeit, die Expeditionen in die Wildnis, als diese tatsächlich noch wild war. Die Welt ist dabei vertraut genug, um einen leichten Einstieg zu erlauben. Die Abweichungen beginnen, als Thomas Eddison im Jahre 1870 den ersten Flug zum Mars antrat und erfolgreich zurückkehrte. Ab diesem Zeitpunkt entwickelte sich die Welt von Space 1889 ein wenig anders. Bis zum Beginn des Handlungsspielraums britische Kolonien auf dem Mars, deutsche Siedlungen auf der Venus und ein Forschungsposten auf dem Merkur zum Alltag gehören. Zusammen mit der veränderten und doch vertrauten Erde bietet sich so ein bemerkenswert vielfältiger Hintergrund für Abenteuer aller Art. Das Alternativwelt-Setting scheut dabei durchaus nicht vor schwierigeren Themen zurück, wie etwa die grausamen Regeln der Sozialdynamik und einem noch weitaus unverhohlener auftretenden Rassismus. Da diese aber nie als gegeben hingenommen werden, und im Gegenteil, oft eine Basis für die Motivation der Helden bieten, dient dies niemals einer Verharmlosung oder Glorifizierung. Die alternativ verlaufene Vergangenheit ist in diesem Kontext mehr an die fantastische Natur der Romane jener Zeit angelehnt, als tatsächliches Geschehen. Wenn auch historische Bezüge durchaus existieren, so ist doch einiges anders verlaufen.
Die Motivation des Helden / der Heldin wird zudem betont, da durch die Mechanik der Stil-Punkte, rollenentsprechendes Verhalten innerhalb der Spielehandlung honoriert wird. Idealerweise ergibt sich dadurch ein Bonussystem, das über stures Punktesammeln hinausgeht. So kann etwa ein Großwildjäger keine Erfahrung sammeln, indem er nur auf Ratten schießt.

Der Einstieg in das Spiel wird außerdem durch eine großzügige Auswahl vorgefertigter Charaktere erleichtert, die im Grundregelwerk enthalten sind. Zusätzliche Bände erweitern diese Auswahl noch. Abgeschrieben, kopiert oder leicht verändert erlauben diese, sich sofort in die Welt zu stürzen wenn die Zeit drängt. Sollte dies kein Problem sein, bietet die übersichtlich ausgeführten Schritte der Charaktererstellung auch genügend Optionen, einen vollkommen eigenen Helden detailliert auszuarbeiten, ohne dabei ins Extrem abzurutschen.

Abschließend sollte noch erwähnt werden, dass diese Rezension für die vom Uhrwerk-Verlag veröffentlichte Version dieses Spieles gilt. Vor kurzem wechselten die Rechte an Space1889 den Besitzer, und befinden sich nun in den Händen von Ulisses North America. Weiterhin existiert eine Konvertierung für das Universalsystem Savage Worlds, die aber hier noch nicht probegespielt wurde, und nur der Vollständigkeit halber erwähnt wird.

 

Fazit:
Space 1889 bietet eine regelleichte, atmosphärisch dichte Rollenspielerfahrung für all jene, die sich eher an die Seite an Bord der Nautilus auf große Fahrt begeben, als gegen einen Drachen ins Feld ziehen würden. Andererseits, wer weiß schon, ob nicht auch auf dem Mars Drachen lauern?

 

 

Bewertung / Test:
+ einzigartiges Szenario
+ schnell erfassbare, übersichtliche Regeln
+ hochqualitatives Grundregelwerk mit stimmungsvollen Illustrationen
+ bietet Raum für eine Vielzahl möglicher Szenarien
+ große Empfehlungsliste für Inspirationen

– geringes taktisches Element
– durch Erzählfokus sehr breit gefächerte Regeln
– leichtes Min/Maxing
– hohe Detailtiefe des Settings kann abschreckend wirken
– kein beiliegendes Einstiegsabenteuer

(Eine Rezension von Ulrich Reimer)

Wichtige Informationen zu unseren Rezensionen (KLICK)

 

Die folgende Bewertung erfolgt innerhalb der Kategorie:
“Rollenspiele”

  • ... Altersgruppe 13 bis 49 Jahre
  • ... Altersgruppe 50 bis 75 Jahre
  • ... Altersgruppe ab 76 Jahre
4.7

Space 1889 Grundregelwerk (2012)

Spielidee: Frank Chadwick, Redaktion Stefan Küppers
Grafik: Slavomir Maniak, uva
Verlag:  Ulisses North America / (Uhrwerk-Verlag)
Spieler*innenanzahl: 4-8 Spieler*innen
Altersempfehlung Verlag: Ab 12 Jahren
Spieldauer: Ab 2 Stunden

Generationentauglich: Bedingt, Interesse und Geduld für längere Texte vorausgesetzt

Pädagogisch wertvoll: Bedingt, unterstützt Fantasie, lehrt freies Sprechen, Vorausplanung und Teamwork